Prof. Dr. med. Horst Köditz
Das Ohr als
medizinisches Instrument
Vortrag anläßlich der
„Medizinischen Woche Baden-Baden“
Prof. Dr. med.
Horst Köditz
leitete bis zu seiner Pensionierung 1997 den Lehrstuhl für Pädiatrie
an der Universität Magdeburg sowie
die Universitätskinderklinik.
Von 1990 1993 war er Rektor
der Universität Magdeburg.
Der hochbegabte und naturwissenschaftlich sehr interessierte Hohenstaufenkaiser Friedrich II. hatte sich die Frage vorgelegt, in welcher Sprache Kinder sich auszudrücken beginnen würden, die niemals vorher irgendein Wort sprechen gehört haben.
Würde das die lateinische oder die griechische oder die älteste Sprache, die hebräische oder die Muttersprache sein? Sein lebhaftes Interesse veranlaßte ihn zu einem ungewöhnlichen Experiment.
Er übergab Wärterinnen und Ammen eine Anzahl verwaister Neugeborener zur Aufzucht mit dem Auftrag, ihnen die Brust zu reichen und die beste Pflege zu garantieren, aber mit dem strengsten Verbote, jemals mit oder vor ihnen ein Wort zu sprechen.
Des Kaisers brennende Frage fand indessen aber keine Antwort; denn alle Kinder starben im frühesten Alter.
„Sie konnten ja nicht leben ohne den Beifall, die Gebärden, die freundlichen Mienen und Liebkosungen ihrer Wärterinnen und Ammen; deshalb nennt man Ammenzauber die Lieder, die das Weib hersagt beim Schaukeln der Wiege.“ So lautet das Urteil des Chronisten Salimbene von Parma eine um die Zeit von 1240 bemerkenswerte Fragestellung.
„Musik wirkt unmittelbar physiologisch über unser Ohr und dessen Nervenverbindungen mit dem Gehirn auf unseren gesamten Organismus.“
Im zweiten Buch des Herodot wird von Psammetich eine ähnliche Geschichte mit weniger tragischem Ausgang erzählt. Wenn diese Berichte vielleicht auch übertrieben sind, so sind sie doch frühe Hinweise darauf, wie notwendig die Stimulation der Sinne für eine normale Entwicklung der Kinder ist.
Haben wir heute nicht das entgegengesetzte Problem?
Ton und Klang Naturphänomen, Schallereignis Zivilisationsgefahr oder Balsam für Leib und Seele?
Ist Musik nicht Sonderfall selbstproduzierten Lärms des Menschen gehört sie somit zum Umweltlärm? Heute mehr denn je seit der Vertreibung der Stille steht Musik im Spannungsfeld von ekstatischem Drogenrausch, ausgewogener Harmonie und akustischer Belästigung. Ausnahmslos alle Altersgruppen kommen mit ihr in Berührung, doch wie gehen sie mit ihr um? Kompensation von Gefühlswelten und körperlichen Reaktionen, psychischer Befindlichkeit und physischer Belastbarkeit. Wie sensibel sind unser Gehör und unser Reizleitungssystem? Wieviel Dauerbeschallung vertragen sie noch?
Welche Hirntätigkeiten werden aktiviert, welche Vernetzungen können registriert und wie können sie bewertet werden? Wie krank können Schallereignisse machen?
Damit will sich die Medizinische Woche Baden-Baden jedoch in diesem Jahr nicht befassen, sondern mit der Frage, wie es möglich ist, den umgekehrten Effekt zu erreichen, nämlich über die Sinne einen heilenden Einfluß auf die Menschen zu ermöglichen.